Blickt man in die populären Bücher, die sich mit Athletiktraining beschäftigen oder fragt Trainer und Athleten über Trainingsinhalte des athletischen Trainings so scheint bei den meisten das Krafttraining eine recht dominante Position einzunehmen. Es steht natürlich außer Frage, dass es wichtig und essentiell ist muskuläre Spannung (Kraft) vor allem innerhalb der sportartspezifischen Bewegungen optimal entwickeln zu können. Doch die Frage ist, hilft uns Krafttraining wirklich dieses Ziel zu erreichen. Alle Trainingsinterventionen sollten meinen Athleten stets sportartspezifisch besser machen, richtig? In diesem Artikel möchten wir nun einmal aus Neuro-Athletischer Perspektive die Wirkweise und Einsatzmöglichkeiten des Krafttrainings in Bezug auf einige wichtige neuronale Grundlagen kritisch hinterfragen.
Soll-Ist-Problematik in der Leistungsdiagnostik
In der klassischen Herangehensweise, wie ein Krafttraining zu gestalten sei werden meist die Anforderungen der Sportart im Hinblick auf die jeweiligen motorischen Fähigkeiten analysiert (z.B. Hüftbeugerkraft bei Sprintern, etc.) und diese mit den Fähigkeiten des Athleten abgeglichen (Leistungsdiagnostik) und je nach Befund wird dann begonnen fleißig die Fähigkeiten des Athleten dem Anforderungsprofil entsprechend aufzuarbeiten. Eigentlich ganz clever! Aber hilft uns das wirklich weiter? Ist es nicht vielmehr entscheidend zu fragen warum mein Athlet in bestimmten Bereichen – wie z.B. der Kraft im Hüftbeuger – immer noch unzureichend ausgebildet ist, obwohl er diese Bereiche 6-10mal in der Woche allein durch das Betreiben seiner Sportart extrem trainiert? Woher kommt es also, dass ein so wichtiges System nicht in den Bewegungsvorgang integriert wird und sich hierdurch normal ausbilden kann? Und was nützt es uns dieses System jetzt einfach mal zu kräftigen, hoffen wir denn wirklich hierdurch würde es auch wieder in den Steuerungsprozess integriert werden, nur weil es jetzt stärker ist?? Hier scheint wohl eher ein Problem vorzuliegen, dass in der Bewegungssteuerung seinen Ursprung hat und dies wird daher auch nicht einfach – obwohl die Struktur offensichtlich schwach ist – mit Krafttraining behoben werden können. Sorry, aber das wäre zu einfach gedacht!
Kraft zu erzeugen ist ein Output-Ereignis
Wie ihr euch bestimmt erinnert haben wir in unseren Artikeln immer wieder erläutert, dass es sich bei sämtlichen körperlich erzeugten Äußerungen immer um „Output-Ereignisse“ handelt und diese daher grundsätzlich von den Systemen und Vorgängen im Gehirn abhängig sind die sie erzeugt haben. So auch die Fähigkeit muskuläre Spannung, also „Kraft“ zu generieren!! Die Unfähigkeit eines Systems ausreichend neuromuskuläre Spannung zu erzeugen kann und sollte also nicht einfach damit beantwortet werden es durch externe Lasten zu stressen, um quasi mit der Brechstange diejenige Spannung zu erzwingen, die eigentlich vom Gehirn durch die Auswertung und Interpretation aller eingehenden Informationen aus den verschiedenen Sinnesorganen natürlich entstehen sollte!
Spezifität des Inputs
Unabhängig davon, dass wir uns immer fragen sollten warum ein System generell schwach ist möchten wir noch einmal in Erinnerung rufen, dass alle motorischen Fähigkeiten wie Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit, grundsätzlich immer bewegungs-, haltungs- und situationsspezifisch sind. Immer! Das heißt die Frage ist nicht nur, ist das System allgemein in der Lage optimal Kraft zu generieren, sondern auch, ist es in dieser speziellen Bewegungssituation noch dazu in der Lage? Die Spezifität der Anpassung ist ein neuronales Gesetz und nicht diskutierbar. Sprachen wir zuvor von Kraft als „Output-Ereignis“ so betrachten wir nun den spezifischen Einfluss des „Input“ aus den Sinnesorganen zu unserem Gehirn auf das gewünschte Output-Ereignis „Kraft zu erzeugen“. Durch jede neue Situation in der sich mein Athlet befindet verändert sich dieser „Input“, da sämtliche Sinnesorgane die an der Bewegung beteiligt sind nun anderen Anforderungen ausgesetzt sind. Das Gehirn versucht aber immer sich optimal und absolut spezifisch an die jeweilige Situation anzupassen; so ist es angelegt und das ist sein Job. Das heißt, die Fähigkeit im Kraftraum „willkürlich“ muskuläre Spannung zu erzeugen ist absolut spezifisch und korreliert recht wenig mit der Fähigkeit dieses spezifische Kraftpotential auch innerhalb einer sportspezifischen Bewegung gezielt nutzen zu können. Ein kleines Beispiel: In den meisten Fällen wird während des Krafttrainings der Kopf nicht bewegt und der Körper beschleunigt vertikal (Kniebeuge, Reißen, Stoßen, Klimmzug, etc.) oder horizontal (Ausfallschritte, etc.) oder aber auch gar nicht (Stabi). Wenn der Kopf sich nicht bewegt, aber der Körper beschleunigt, dann sind die Bogengänge der Gleichgewichtsorgane auf „Standby“ geschaltet und die Kontrolle der Beschleunigung des Körpers wird nun von dem sogenannten Otolithen-System, ein Subsystem des vestibulären Apparates, übernommen. Das bedeutet, die neuronale „Bewegungsschleife“ die ich hier erzeuge existiert dann ohne Integration der Informationen aus den Bogengängen des vestibulären Systems und ist quasi nur mit dem Otolithen-System verschaltet! In den allermeisten Sportarten ist jedoch nicht nur ein System isoliert aktiv und übernimmt die Kontrolle, sondern es findet eine ständige Interaktion aller Systeme des vestibulären Apparates statt. Dies hat aber immense Auswirkungen! Das gleiche gilt übrigens auch für die Unterschiede in der Art der Anforderungen an das visuelle System und/oder der Bewegung innerhalb der Bewegungsebenen (Krafttraining eher linear und sagittal/frontal vs. mehr nichtlinear und dreidimensional im Sport) sowie deren Dynamik. Der Input, der die Entscheidungsgrundlage für das Gehirn bildet, wie eine Situation bewertet und wie die Bewegung gesteuert werden soll und wie viel muskuläre Spannung wann erzeugt werden sollte unterliegt also in einer kontextbezogenen Sportsituation meist VÖLLIG ANDEREN STUEUERUNGSPROZESSEN UND EINFLUSSFAKTOREN als denen im Krafttraining.
Ein kleiner geschichtlicher Exkurs zum Krafttraining
Woher also kommt der hohe Stellenwert des Krafttrainings im athletischen Kontext, wenn bisher doch einiges nicht unbedingt dafür zu sprechen scheint? Hierzu ein kleiner geschichtlicher Exkurs über einen entscheidenden Faktor in der Entstehung unserer Krafttrainingsfokussierung. Vor geraumer Zeit haben clevere Wissenschaftler festgestellt, dass die Maximalkraft eines Athleten einen positiven Bezug zu allen anderen Krafterscheinungsformen zeigt. Das heißt die Schnellkraft, Kraftausdauer etc. stehen in einer positiven Korrelation zur verfügbaren Maximalkraft eines Athleten. Die Maximalkraft ist somit quasi die Mutter aller Krafterscheinungsformen und ihr Training sollte, so war ein logischer Schluss, dementsprechend in den Mittelpunkt des Athletiktrainings rücken. Macht ja zunächst auch einmal Sinn! Und so schaute man sich um, wo denn die Athleten mit den größten Maximalkraftwerten zu finden seien, und fand diese bei den Kraftdreikämpfern und olympischen Gewichthebern. Also kopierte man deren Trainingsmethoden und nahm sie in den Grundlagenkatalog des athletischen Krafttrainings auf. Doch was man nicht genau beachtete war, dass Bankdrücken, Reißen, Stoßen, Kniebeugen und deren unterstützenden Zubringer-Übungen zwar für diese Sportarten (Kraftdreikampf und Gewichtheben) und deren Anforderungen spezifisch sind und daher auch erstrebenswert und richtig (vor allem da es sich auch um Kraftsportarten handelt) aber NICHT für fast alle ANDEREN Sportarten! Und so finden wir diesen Übungs- und Methodenkatalog noch heute im Athletiktraining der meisten Sportarten. Eine Kniebeuge (bilateral und eher linear, und perfekt wenn Kniebeugen oder Umsetzen deine SPORTART ist) macht aber nur sehr selten Athleten die nicht aus einer Kraftsportart im symmetrischen Stand kommen wirklich besser. Löst sich ein Bein vom Boden herrschen leider andere Gesetze. „Spezifität der Anpassung“ bedeutet nun mal wirklich Spezifität der Anpassung – und ich passe mich immer haargenau dem an was ich tue, und wie ich es tue.
Spezifische Anpassung der bewegungssteuernden Areale
Die nächste Frage, die wir stellen müssen ist: was passiert auf neuronaler Ebene mit unseren Athleten, wenn wir sie diesem Training aussetzen? Innerhalb der Spezifität der Anpassung gibt es noch einen weiteren Aspekt auf den wir schauen müssen, nämlich dass sich dasjenige System am stärksten anpasst welches aufgrund seines besseren „Inputs“ am meisten und stärksten benutzt wird. In unserem Artikel über bilaterales Training haben wir aufgezeigt, wie vor allem bilaterales Langhanteltraining dazu führt, dass eine Körperhälfte stets mehr und intensiver genutzt wird als die andere. Grund hierfür ist die zentrale Stellung des Kleinhirns innerhalb unserer Bewegung. Grundsätzlich koordiniert und balanciert das rechte Kleinhirn die Bewegung und die aufrechte Haltung der rechten Körperhälfte, es integriert zudem alle aus den Sinnesorganen eingehenden Informationen in diesen Bewegungsprozess. Das linke Kleinhirn tut dies für die linke Körperhälfte. In den allermeisten Fällen finden wir hier eine besser- und eine schlechter-koordinierte Körperhälfte bei unseren Athleten. Das Gehirn ist nun aber so programmiert, dass es immer die Strukturen, die klare und vorhersehbare Informationen liefern, mehr und intensiver beansprucht und daher wird bei einem bilateralen Langhanteltraining eigentlich immer eine Seite mehr beansprucht als die andere und alle damit in Wechselbeziehung stehenden Hirnareale werden dementsprechend verstärkt genutzt oder aber heruntergefahren! Die Ungleichgewichte innerhalb der Aktivität in den bewegungssteuernden Hirnarealen werden also größer. NICHT GUT!
Und das ist leider noch nicht alles, denn wie oben bereits erwähnt: je aktiver dieses Kleinhirn desto aktiver sind auch die Hirnareale mit denen es in neuronalen Wechselwirkungen steht. Das bedeutet, dass ein nicht geringer Teil unserer gesamten Hirnaktivität auch abhängig ist von der Aktivität dieses so wichtigen Kleinhirns. Doch was hat das jetzt mit Krafttraining zu tun? Ziemlich viel. Denn das Kleinhirn wird, wie wir wissen, überwiegend durch neuartige, komplexe, nichtlineare Bewegungen aktiviert; hierbei ist viel zu koordinieren, balancieren und integrieren – und das sind die Hauptfunktionen des Kleinhirns. Wie aber sieht das Krafttraining im Allgemeinen aus? Es wird überwiegend linear gearbeitet (Kniebeuge, Bankdrücken, Ausfallschritt, Kreuzheben, Rudern, Curls, etc. und dies mitunter noch an geführten Maschinen!) So, jetzt haben wir wirklich ein Problem – denn aufgepasst: lineare, einfache Bewegungen senken die Aktivität des Kleinhirns und damit auch die Aktivität der in Wechselwirkung stehenden Hirnareale! WIRKLICH NICHT GUT. Dabei dachte doch fast jeder: Krafttraining sei an sich immer gut? Leider nein. Über lange Sicht erhöht sich also durch ein dominant linear ausgeführtes (eventuell sogar noch bilaterales) Krafttraining die Verletzungsgefahr, während die Bewegungsqualität und die Leistungsfähigkeit des Athleten gemindert werden und die Aktivität von wichtigen Teilen des Gehirns sinkt! Das ist wohl nicht im Sinne des Erfinders und wir sollten an dieser Stelle wirklich kritisch hinterfragen an welcher Stelle und in welchem Umfang Inhalte aus dem traditionellen Krafttrainingskatalog Eingang finden in unsere Trainingspraxis.
Krafttraining und neuronales Lernen
Der letzte Punkt, der in diesem Artikel noch angesprochen werden soll betrifft die intensive, neuronale Anpassung, die durch Krafttraining entsteht, also das neuronale-und motorisches Lernen durch Krafttraining. Eine Gesetzmäßigkeit hierbei ist, dass je intensiver der gegebene Reiz ist desto stärker, schneller und nachhaltiger ergeben sich neuronale Anpassungen auf diesen Reiz. Krafttraining, vor allem mit hohen Lasten, ist nun ein fabelhaftes Beispiel für solch einen intensiven Reiz. Das heißt im Krafttraining vollzieht sich das „neuronale Lernen“ sehr schnell und die neuronale Anpassung wirkt nachhaltig. Daher hoffe ich sehr, dass keiner der Athleten, die dem Krafttraining ausgesetzt werden ein asymmetrisches, schiefes oder in seiner Steuerung einseitig reduziertes System haben, denn dies würde durch ein unspezifisches, den neuronalen Bedingungen unangepasstes Krafttraining nun neuronal zementiert werden und als Resultat hätte dieser Athlet dann ein kräftig-schiefes System!! Über die Gefahren in Bezug auf die Intensität die man benötigt um vor allem die wirklich schnell zuckenden Muskelfasern zu aktivieren oder die möglichen Auswirkungen, wenn der Athlet einen Bereich im Körper nicht wirklich kontrollieren kann (Hüfte, Wirbelsäule oder Fußgelenke) und da nun hohe externe Lasten draufgepackt werden, oder die Wichtigkeit der Qualität der technischen Ausführung der einzelnen Kraftübungen (es braucht z.B. Jahre um effizient Umsetzen zu „können“) spreche ich lieber erst gar nicht.
Fazit
Betrachtet man also Kraft als neuronales Output-Ereignis, das abhängig ist vom situations- und sportartspezifischen Input und das den Gesetzmäßigkeiten der neuronalen Steuerung unterliegt, dann wird deutlich warum es auch in der Wissenschaft nach Metaanalysen über Krafttraining mittlerweile recht umstritten ist, ob Krafttraining überhaupt die spezifische Leistungsfähigkeit steigert, und wenn es das tut, dann warum. Um diese individuellen „Output-Ergebnisse“ besser einordnen zu können müssen wir immer einen neuronalen Status quo der involvierten Gehirnareale erstellen, denn nur hierdurch können wir einschätzen was, warum wie wirkt und welche Kraftinterventionen eine positive Wirkung auf die spezifische Leistungsfähigkeit eines individuellen Athleten, mit seinen spezifischen sportlichen Anforderungen und neuronalen Gegebenheiten haben. Krafttraining hat, wie wir gesehen haben, durch seine Intensität und der Intensität des neuronalen Lernens sowie der Spezifität der Anpassung IMMER starken Einfluss und zwar nicht nur mechanisch und physiologisch-strukturell sondern in erster Linie neuronal und dies alles entweder zum besseren oder, wenn es dem Athleten und seinen neuronalen Voraussetzungen nicht angepasst wurde, zum schlechteren.
Aus Neuro-Athletischer Perspektive würden wir also erst dann über ein gezieltes individuelles Krafttraining nachdenken, wenn die die neuronalen Aspekte aufgearbeitete wurden und wir ausschließen können, dass sich ungewollte negative Anpassungen ereignen und wir sicher sind, dass ein Krafttraining die individuellen neuronalen Aspekte gezielt positiv beeinflusst die meinen Athleten in die Lage bringen situations- haltungs- und bewegungsspezifisch „stark“ zu sein und ihn damit in die Lage versetzen in seiner gewählten Sportart optimale Leistungen zu erbringen. Dazu aber bald mehr…